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Wenn Liegenschaften wünschen könnten


Eigentlich wollte ich nur mitteilen, dass wir unser Kursprogramm für 2020 nun Online auf unserer Website aufgeschaltet haben und auf Anmeldungen bis 15. Januar 2020 noch 10% Frühbuchrabatt gewähren.

Aber ich hatte die Gelegenheit, ein ganz spezielles Gespräch zu führen, dass ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Was würde sich eine Liegenschaft wünschen, wenn Sie uns dies mitteilen könnte? Eine saubere Fassade? Bewohner, welche sorgsam mit ihr umgehen? Endlich ein helleres Treppenhaus? Ich durfte ein Interview mit der Liegenschaft Friedhofweg 1 machen und möchte Ihnen dieses hier wiedergeben.

Ich: Herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit für ein Interview nehmen.

Friedhofweg 1: Keine Ursache. Zeit habe ICH genügend – Ihr Menschen seid es, die nie Zeit habt. Rennt den ganzen Tag umher und kommt selten glücklich und zufrieden zurück nach Hause. Meistens ja nur gestresst. Und die meisten reden mehr mit einem solchen Gerät am Ohr, als mit den Mitmenschen. Ausser ihr müsst ans Ende dieser Strasse gehen. Dann endlich habt Ihr Zeit und wirkt entspannt in Eurem letzten Bett – leider etwas zu spät.

Ich: Sie scheinen sehr feinfühlig zu sein – das sieht man Ihnen gar nicht an.

Friedhofweg 1: Tja, für Euch Menschen sind wir ja nur ein Gebäude, das man nutzt. Für mein Aussehen kann ich selbst sehr wenig tun – und leider tun hierfür auch weder mein Besitzer noch mein Verwalter etwas Auffrischendes. Wenn es so weitergeht, bleibt mir nur noch der Bagger übrig.

Ich: Was würden Sie sich denn wünschen?

Friedhofweg 1: Ich würde mich freuen, wenn die Kinder im Hause sich wieder auf dem Rasen austoben dürften. Aber nachdem das Bundesamt für weiss ich was so hohe Auflagen an die Sicherheit von Kinderspielplätzen gemacht hat, wurde dieser entfernt statt saniert. Dafür laufen jetzt die Kinder häufig mit so einem Gerät vor der Nase herum, statt in der Welt herumzuschauen, herumzutoben und lernen miteinander zu reden.

Ich: Aber dafür wurden Sie für die Weihnachtszeit schön dekoriert und mit vielen Lämpchen verziert.

Friedhofweg 1: Früher war es an den vier Sonntagen vor Weihnachten immer so schön. Da sangen die Kinder und die Eltern erzählten Geschichten. Heute werde ich vier oder fünf Wochen dekoriert, aber ich glaube nicht, dass noch jemand weiss wofür. Mir wäre lieber, man würde mal die Abwasserleitung im Haus sanieren, anstatt jedes Jahr zwei bis drei Mal einen Absaugservice kommen zu lassen, weil die Leitung wieder verstopft und der Keller überschwemmt ist.

Ich: Aber Ihre Bausubstanz ist ja noch sehr gut – ich habe Sie viel jünger eingeschätzt.

Friedhofweg 1: (lacht) Jaja, danke für das Kompliment. Aber die Bausubstanz nützt nichts, wenn der liebe Verwalter nicht dazu schaut oder der Eigentümer seine Vorschläge nicht finanzieren will. Man spricht ja viel von Nachhaltigkeit – aber viele meinen wohl, dass sich dies sich vor allem auf das eigene Bankkonto bezieht.

Ich: Sie tönen nicht so zuversichtlich?

Friedhofweg 1: Ich könnte mich bedauern, weil niemand recht zu mir schaut. Aber eigentlich bedaure ich mehr die Menschen, die an mir vorbeihetzen. Sie haben die Möglichkeit zu gehen, zu denken, zu empfinden und zu leben. Und doch wirken sie unglücklich. Manchmal kommen sie mir vor wie die Gebäude in der Stadt: bunt zusammengewürfelt, eng nebeneinander stehend und doch kein Miteinander geschweige denn miteinander reden.

Unglücklich sind auch die Menschen, die hier den Weg runterkommen, weil sie sich soeben von jemandem verabschieden mussten oder weil sie jemanden besuchten, dem es nichts mehr nützt. Warum hatte man diese Besuche nicht früher schon gemacht? Und warum haben die Betroffenen das Leben nicht mehr genossen?

Ich als alte Liegenschaft hier in der Stadt habe nicht viel von der Welt gesehen und doch sehe ich, dass es den Leuten fehlt, sich kritisch zu betrachten und an sich zu arbeiten, damit der Glanz nach aussen von innen herkommt.

Was nützt es mir als Gebäude, wenn die Fassade schön aussieht, aber die Bausubstanz innen zerfällt und die Bewohner nur bei mir bleiben, weil es billig ist und nicht, weil sie sich wohlfühlen.

Menschen, die auf sich und ihre inneren Werte achten sind Menschen, in deren Nähe man sich wohl fühlt.

Ich: (nach einer Denkpause) Vielen Dank für diese Worte. Ich war mir gar nicht bewusst, dass wir von Gebäuden so viel lernen können.

Lieber Leser, für das kommende Jahr wünsche ich uns allen viel Gesundheit (das ist ein Geschenk) und die Kraft und den Willen an uns zu schaffen (da sind wir gefordert), damit sich auch andere Menschen um uns herum wohl fühlen. Dann können wir gemeinsam das Jahr mit all seinen Unwettern viel besser und «aufgestellter» bewältigen. Ich freue mich auf 2020!

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